Freitag, 6. Dezember 2024

WasserkraftUnterschätzte Wärmequelle

[25.03.2024] Die flächendeckend in Deutschland zur Verfügung stehenden Fließgewässer bergen ein bislang wenig beachtetes Potenzial für die grüne Wärmegewinnung. Durch kombinierte Wasser-Wärme-Kraftwerke ergäben sich vollkommen neue Nutzungsperspektiven für die Wasserkraft.
Durch kombinierte Wasser-Wärme-Kraftwerke ergeben sich vollkommen neue Nutzungsperspektiven für die Wasserkraft.

Durch kombinierte Wasser-Wärme-Kraftwerke ergeben sich vollkommen neue Nutzungsperspektiven für die Wasserkraft.

(Bildquelle: fottoo/stock.adobe.com)

Die Identifizierung und kostengünstige Erschießung neuer Wärmequellen mit einer hohen Leistungsdichte auf Basis erneuerbarer Energien ist eine der Kernaufgaben der Wärmewende in Deutschland. Verstärkt werden diese Bestrebungen durch die kommunalen Wärmeplanungen, in denen die Kommunen quantitativ und räumlich differenziert vorhandene Potenziale zur Erzeugung von Wärme aus erneuerbaren Energien ermitteln, um den vor Ort besten und kosteneffizientesten Weg zu einer klimafreundlichen Wärmeversorgung zu finden.
Vor allem in den 80 Großstädten, in denen rund 27 Millionen Menschen und damit fast 32 Prozent der Bevölkerung in Deutschland leben, die aber mit 13.815 Quadratkilometern nur annähernd vier Prozent der Landesfläche von Deutschland einnehmen, ergeben sich bezüglich der Wärmebereitstellung aus erneuerbaren Energien große Herausforderungen – denn sie haben einen großen Wärmebedarf, gleichzeitig steht ihnen eine sehr geringe Fläche zur Verfügung. Auch in den Mittelstädten, in denen etwa 27 Prozent der Bevölkerung leben, ergibt sich insbesondere in den verdichteten Innenstadtkernen ein ähnliches Problem. Gleiches gilt für die historisch gewachsenen Altstädte kleinerer Gemeinden. Für die Wärmeversorgung dieser Siedlungsstrukturen werden Wärmequellen mit einer hohen Leistungsdichte benötigt.

Fließgewässer als Umweltwärmequelle

Eine bisher wenig betrachtete Umweltwärmequelle mit einer sehr hohen Leistungsdichte stellen die Fließgewässer dar. Mit einem Netz von über 400.000 Kilometern Länge sind sie in Deutschland flächendeckend vorhanden und verhältnismäßig gleich über alle Bundesländer verteilt. Beinahe jede Stadt und jedes Dorf werden von einem oder mehreren Fließgewässern durchflossen oder liegen in deren unmittelbarer Nähe. Eine energetische Nutzung dieser gut erschließbaren, kostengünstigen und leistungsstarken Umweltwärmequelle bietet sich damit für die kommunale Wärmeversorgung an.
Im Rahmen eines Forschungsvorhabens am Institut für Statik und Dynamik (ISD) der Technischen Universität Braunschweig wurde das für die Wärmeversorgung in Deutschland nutzbare Gesamtwärmepotenzial aus Fließgewässern berechnet. Dabei wurde für das gesamte Staatsgebiet ein langjähriger mittlerer Jahresabfluss der Fließgewässer von 5.868 Kubikmetern pro Sekunde (m³/s) ermittelt. Dies entspricht einem Gesamtjahresabfluss für Deutschland von knapp 185 Milliarden Kubikmetern. Aus den erfassten Gesamtabflussdaten kann das Wärmepotenzial der Fließgewässer berechnet werden.

Thermisches Potenzial

Wie die Untersuchungen zeigen, weisen die Fließgewässer in Deutschland ein gewaltiges thermisches Potenzial auf. Bei einer Temperaturabsenkung der Fließgewässer um nur zwei Kelvin, das heißt zwei Grad Celsius, ergibt sich – bezogen auf die gesamte Fließgewässerlänge – eine Wärmeleistung von rund 49 Gigawatt (GW) bei einer Einmalentnahme und von rund 98 GW bei einer Zweimalentnahme der Wärme. Das Wärmepotenzial für das Gesamtjahr liegt bei einer Einmalentnahme der Wärmemenge bei einem Temperaturentzug von zwei Kelvin bei 430,8 Terawattstunden pro Jahr (TWh/a) und bei einer Zweimalentnahme bei 861,5 TWh/a. Um eine Vorstellung von der Größenordnung der vorliegenden Potenziale zu gewinnen: Der gesamte Endenergiebedarf in Deutschland lag im Jahr 2021 bei etwa 2.407 TWh. Knapp 56 Prozent des Endenergiebedarfs entfielen 2021 auf den Wärmebereich mit einem Verbrauch von etwa 1.349 TWh. Davon sind mit knapp 915 TWh circa 68 Prozent des Wärmebedarfs im Niedertemperaturbereich angesiedelt, also bei Temperaturen unter 100 Grad Celsius.
Wie die Untersuchungen verdeutlichen, haben Fließgewässer somit das Potenzial, bis zu 94 Prozent des Wärmebedarfs im Niedertemperaturbereich, bis zu knapp 64 Prozent des Gesamtwärmebedarfs und 36 Prozent des Endenergiebedarfs in Deutschland zu liefern und können dementsprechend einen wesentlichen Beitrag zur zukünftigen Wärmeversorgung leisten. Besonders interessant ist dies, da die Fließgewässer in Deutschland im Winter 60 bis 70 Prozent mehr Wasser als im Sommer führen. Da­rüber hinaus sind infolge des Klimawandels die Gewässertemperaturen mittlerweile auch im Winterhalbjahr wesentlich höher als noch in den 1950er-Jahren, sodass die Wärmeentnahme aus Fließgewässern eine wirkungsvolle Möglichkeit zur Klimafolgenanpassung darstellt und zur ökologischen Verbesserung der Gewässer beiträgt.

Untersuchung der 80 Großstädte

Im Zuge des Forschungsvorhabens erfolgte auch eine Untersuchung des Wärmepotenzials der Fließgewässer in den 80 Großstädten in Deutschland. Hierzu wurde für jede zu untersuchende Großstadt ein lokales Fließgewässermodell aufgebaut, um die im jeweiligen Stadtgebiet vorhandenen Gewässereinzugsgebiete und Durchflüsse analysieren zu können. Um die mögliche zu gewinnende Wärmeleistung zu bestimmen, wurde ein Temperaturentzug von zwei Kelvin angesetzt. Im Ergebnis zeigte sich, dass in den 80 Großstädten eine Wärmeleistung aus Fließgewässern von insgesamt beinahe 278 GW generiert werden kann, was einer jährlichen Wärmeerzeugung von rund 1.419 TWh/a entspricht. Die im Vergleich zum Gesamtwärmepotenzial aus Fließgewässern in den 80 Großstädten gewinnbare höhere jährliche Wärmemenge liegt an der Mehrfachentnahme der Fließgewässerwärme, so etwa am Rhein.
Insgesamt 58 der 80 Großstädte in Deutschland und damit 73 Prozent sind laut der Untersuchung in der Lage, ihren gesamten Raumwärmebedarf für Haushalte, Industrie, Dienstleistung, Handel und Gewerbe zu mindestens 50 Prozent aus der Fließgewässerwärme zu generieren. Davon könnten 41 Städte (51 Prozent) ihren gesamten Raumwärmebedarf sogar zu 100 Prozent und mehr aus den Fließgewässern decken. Lediglich fünf Großstädte in Deutschland weisen ein geringes Fließgewässerpotenzial von maximal zehn Prozent der erforderlichen Raumwärmebereitstellung bei einer Einmalentnahme auf.

Neue Nutzungsperspektiven

Im Rahmen der Untersuchung der 80 Großstädte wurden auch – so möglich – die in Betrieb befindlichen Wasserkraftanlagen erfasst, und das durch diese Anlagen bereitstellbare Wärmepotenzial aus Fließgewässern für die jeweilige Großstadt ausgewertet.
Die Wasserkraft als grundlastfähige, speicher- und regelbare erneuerbare Energiequelle kann zukünftig eine wichtige Aufgabe bei der Energieversorgung sowie bei den in einem Energiesystem notwendigen Systemdienstleistungen übernehmen. Neben dem derzeitigen ausschließlichen Einsatz der Wasserkraft zur Stromerzeugung besteht die Möglichkeit, den in einem Kraftwerk verarbeiteten Durchfluss zusätzlich zur Gewinnung von grüner Nah- und Fernwärme einzusetzen. In dieser Doppelfunktion ergeben sich vollkommen neue Nutzungsperspektiven für die Wasserkraft in Deutschland.
Alle Großstädte verfügten historisch über eine Vielzahl von Wasserkraftanlagen. In Aachen zum Beispiel wurden früher über 250 Tuchfabriken, Spinnereien und Färbereien durch die Aachener Bäche mit Wasserkraft versorgt. Wie die Auswertung der TU Braunschweig zeigt, werden derzeit noch in 59 von 80 Großstädten rund 263 Wasserkraftanlagen mit einer installierten Leistung von etwa 291 Megawatt (MW) betrieben. Mit ihnen werden 1.391 Millionen kWh (also rund 1,4 TWh) verbrauchernah und grundlastfähig in den Großstädten erzeugt und so die städtischen Netze stabilisiert. Die Stromerzeugung in den Großstädten macht 6,8 Prozent der gesamten Wasserkrafterzeugung in Deutschland aus, die im langjährigen Mittel bei 20,5 TWh/a liegt.

Nutzung des Ausbaudurchflusses

Die in den 59 Großstädten in Betrieb befindlichen 263 Wasserkraftanlagen könnten unter Nutzung ihres Ausbaudurchflusses bei einer Temperaturentnahme von zwei Kelvin eine Wärmeleistung von knapp 57,8 GW zur Verfügung stellen und eine Wärmeerzeugung von 294,1 TWh/a für die Wärmeversorgung der Großstädte liefern. Um dieses große Potenzial zu heben, ist künftig die Forschung und Entwicklung von kombinierten Wasser-Wärme-Kraftwerken erforderlich. Wie die Untersuchung weiter ergab, könnten 30 Großstädte mithilfe der Wasserkraftanlagen ihren gesamten Raumwärmebedarf vollständig aus dem Ausbaudurchfluss decken. Zwölf weitere Großstädte könnten 50 bis 100 Prozent und 17 Großstädte bis zu 30 Prozent ihres Raumwärmebedarfs aus den Wasserkraftanlagen gewinnen. Bei einer Reaktivierung der in den Großstädten befindlichen Alt­standorte und mit dem Neubau von Wasserkraftanlagen könnten sich fast alle Großstädte in Deutschland vollständig oder zu einem maßgeblichen Teil autark mit Raumwärme aus den im städtischen Gebiet zur Verfügung stehenden Fließgewässern versorgen.

Altstandorte reaktivieren

Bereits kleine Wasserkraftanlagen mit einer elektrischen Leistung von fünf bis zehn Kilowatt können große Wärmeleistungen von ein bis zehn Megawatt und mehr bereitstellen und sind somit imstande, einen wichtigen Beitrag zur künftigen Wärmeversorgung der Kommunen zu leisten. Gerade solche traditionellen Mühlen­standorte sind in fast allen Städten und Dörfern vorhanden und liegen derzeit meist brach.
Wie sich in den noch laufenden wissenschaftlichen Untersuchungen an der TU Braunschweig abzeichnet, liegt das Reaktivierungs- und Modernisierungspotenzial der Altstandorte in Deutschland bei 9,3 TWh/a Stromerzeugung. Bei einer vollständigen Reaktivierung könnte also ein zusätzliches Potenzial von 45 Prozent erschlossen und die Wasserkrafterzeugung in Deutschland von 20,5 TWh/a auf 30 TWh/a erhöht werden. Bei der Umsetzung von kombinierten Wasser-Wärme-Kraftwerken könnten diese Standorte zuzüglich zu den bereits in Betrieb befindlichen Wasserkraftanlagen einen maßgeblichen Beitrag zur zukünftigen erneuerbaren Wärmeversorgung in Deutschland leisten.

Christian Seidel

Der Autor, Christian SeidelDipl.-Ing. Christian Seidel ist Leiter der Arbeitsgruppe Regenerative Energien am Institut für Statik und Dynamik der Technischen Universität Braunschweig.



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