Freitag, 3. Mai 2024

Berlin:
Bürger entscheiden über Berlin Energie


[29.4.2013] Der Trend zur Rekommunalisierung hat die Hauptstadt erreicht. Parallel zur Bundestagswahl sollen die Berliner Bürger über die Gründung von Stadtwerken abstimmen. Der Wahlkampf dafür hat bereits begonnen.

Die Bürger entscheiden, ob die Berliner Energieversorgung wieder in kommunale Verantwortung übertragen wird.. Nicht nur Ökostrom hängt vom Wind ab, die Energieversorgung als solche ist eine Frage des Windes und seiner politischen Richtung. Anfang der neunziger Jahre blies er der Privatisierung ordentlich ins Segel. Viele Kommunen kreuzten auf diesem Kurs und trennten sich von ihren Versorgungsunternehmen und Energienetzen, die sie an große internationale Konzerne veräußerten. Mehr Wettbewerb, geringere Preise und viel Geld für die klammen kommunalen Kassen – das waren damals stichhaltige Argumente. Heute hat sich der Wind gedreht. Viele Kommunen wollen das Ruder wieder selbst in die Hand nehmen und ihre ehemalige Infrastruktur zurückerwerben. Zu diesem Richtungswechsel haben teils veränderte politische Verhältnisse geführt, teils geschieht er auf Druck der Bürger. So etwa in Berlin.

Berliner Energietisch

Im Sommer 2011 gründete sich in der Hauptstadt der Berliner Energietisch. Zu jener Zeit hatte der so genannte Wassertisch bereits erfolgreich ein Volksbegehren durchgesetzt. Die Berliner Bürger hatten sich in großer Zahl für den Rückerwerb der Wasserwerke ausgesprochen und die Landespolitik zum Kurswechsel gezwungen. Auf diesen Mechanismus setzt auch der Energietisch, ein Zusammenschluss von inzwischen mehr als 50 Gruppen – darunter der BUND, die Grüne Liga, Robin Wood, die Volkssolidarität, kirchliche Gruppen, Gewerkschaften und der Berliner Mieterverein. „Wir sind gesellschaftlich breit aufgestellt“, sagt Stefan Taschner, Sprecher des Berliner Energietisches. „Unser Ziel ist klar: Wir wollen einen Volksentscheid zur Bundestagswahl, und wir wollen ihn gewinnen. Es ist bundespolitisch von enormer Bedeutung, wenn die zwei größten Städte Deutschlands, Hamburg und Berlin, am Bundestagswahltermin über die Energieversorgung vor Ort per Volksentscheid abstimmen.“
Doch der Reihe nach: Wie viele Kommunen hatte sich Berlin in den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung, als viel Geld benötigt wurde, um die Infrastruktur beider Stadthälften einander anzugleichen, entschlossen, die Berliner Städtische Elektrizitätswerke Aktien-Gesellschaft (BEWAG) zu verkaufen. Umgerechnet fast 1,2 Milliarden Euro erhielt der Berliner Senat im Jahr 1997 dafür. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Land Mehrheitseigner gewesen. Ein Konsortium aus Veba und Viag (später: E.ON) und dem US-Konzern Southern Energy übernahm den Energieerzeugungsbetrieb und die Netze. Über mehrere Stationen gelangte schließlich 2001 der schwedische Energiekonzern Vattenfall in den Besitz der Anteile und ist heute Grundversorger in der Hauptstadt.

Systeme der Daseinsvorsorge

Mit dem Auslaufen der Konzessionsverträge Ende 2014 soll nun die damalige Entscheidung rückgängig gemacht werden. Die Zeichen der Zeit haben sich gewandelt: Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Systeme der Daseinsvorsorge, zu denen neben Wasser, Nahverkehr und Wärme eben auch die Energie gehört, in der öffentlichen Hand besser aufgehoben sind als bei großen Konzernen und deren Profitinteressen. Energie gilt als sichere Einnahmequelle für Kommunen. Das dabei erwirtschaftete Geld bleibt in der Region und landet nicht auf dem Finanzmarkt, ein inzwischen von der Politik wieder anerkannter Vorteil. Mit der Privatisierung hatte man damals jeglichen Einfluss, etwa auf die Gestaltung der Energiepreise, aus der Hand gegeben.
Im Juni vergangenen Jahres sammelte der Berliner Energietisch über 36.000 Unterschriften, um ein Volksbegehren beantragen zu können. Die Aktion gelang im Handstreich, was in der alternativen Hochburg Berlin nicht weiter verwundern kann. Für das Volksbegehren werden bis zum 10. Juni dieses Jahres 173.000 gültige Stimmen benötigt, um parallel zur Bundestagswahl dann einen Volksentscheid durchführen zu können. Die Berliner sollen über den Gesetzentwurf des Energietisches abstimmen, der die Gründung eines landeseigenen Stadtwerks und den Rückkauf der Netze und deren Betrieb in kommunaler Hand vorsieht. Die Aktionen laufen bereits an. „Auf Wochenmärkten, in über 50 Materialstationen, vielen kleinen Geschäften, auf Festivals, am 1. Mai, bei Demonstrationen und beim Sammelmarathon werden wir Unterschriften sammeln“, zählt Stefan Taschner auf. „Wir haben einen Kino-Trailer produziert und schalten Werbung im Berliner U-Bahn-Fernsehen.“
Die Maßnahmen wirken bereits weit im Vorfeld. Um eine Niederlage wie beim Wassertisch zu vermeiden, hat die Berliner CDU/SPD-Koalition eine Kehrtwende vollzogen und sich Teile des Gesetzentwurfs anverwandelt. Zumindest gegen die Gründung eines Stadtwerks spricht sich niemand mehr laut aus, während der Rückkauf der Netze, nicht zuletzt aus Kostengründen, unterschiedlich bewertet wird. Dessen ungeachtet hält der Berliner Energietisch am Volksentscheid fest. „Es tut sich noch zu wenig“, sagt Taschner. „Von sich aus wird der Berliner Senat das Thema nicht nach vorne treiben. Fortschritte gibt es ja nur deswegen, weil wir da sind.“

Ökologisch, sozial, demokratisch

Ziel des Volksbegehrens ist eine ökologische Energiepolitik. Als Vorbild dient Hamburg, wo ebenfalls in zäher Kleinarbeit ein Energieversorger gegründet wurde und nun die Netze zurückerworben werden sollen. „Berlin Energie“, so soll das Stadtwerk laut Gesetzentwurf heißen, will die Hauptstadt zu 100 Prozent mit Strom aus erneuerbaren Energiequellen versorgen, die aus Berlin und dem angrenzenden Brandenburg stammen. Als Übergang sollen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen die benötigte Versorgung garantieren, Energie aus Kohle- und Atomstrom ist ausgeschlossen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Energieeffizienz und Energiesparmaßnahmen. „Das entscheidende ist die Energierechnung“, sagt Stefan Taschner.
„Die Kunden wissen genau, wie viel sie im Jahr für Strom zahlen. Wir wollen eine ernst gemeinte Einsparberatung anbieten. Die Erfahrung andernorts zeigt, dass die Wechselquote dort besonders hoch ist, wo gute Beratung angeboten wird.“ Bei den Städtischen Werken Nürnberg etwa gestaltet sich die Wärme- und Stromsparberatung kostenneutral für die Kommune, allein dadurch, dass Sozialtransfergelder für Wärme eingespart werden können.

Keine Frage des Preises

Darüber hinaus verstehen sich das Berliner Stadtwerk und die zu gründende Netzgesellschaft als soziale Unternehmen: Sie wollen Energie bezahlbar und zuverlässig produzieren und eine sozialverträgliche energetische Gebäudesanierung fördern. Zu der sozialen Konzeption der Unternehmen gehört auch, den Vattenfall-Beschäftigten die Übernahme zu garantieren, alle Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beizubehalten und die Zahl der Beschäftigten für die gesamte Laufzeit des Konzessionsvertrages stabil zu halten. Zu den demokratischen Zielen gehören vor allem Transparenzvorgaben und das Offenlegen aller Vertragsdokumente. Hintergrund: Beim Berliner Wassertisch hatte es ein zähes Ringen um die Veröffentlichung der Verträge gegeben, die erst eingeklagt und per Volksentscheid 2011 herbeigeführt werden musste. Der Energietisch optiert gleich für offene Karten und für Mitbestimmungsmöglichkeiten, auch um die Preisgestaltung später für Bürger nachvollziehbar zu machen.
Acht Interessenten wollen sich um die anstehende Netzvergabe bewerben, darunter auch der jetzige Betreiber Vattenfall und eine vom Energietisch initiierte Netzgesellschaft als Anstalt öffentlichen Rechts. Sicher, preisgünstig, verbraucherfreundlich, effizient und umweltverträglich, so lauten die vom Bundeskartellamt vorgeschriebenen Vergabekriterien. Die finanziellen Interessen einer Kommune, langfristig sichere Einnahmen aus den im Strompreis enthaltenen Netzgebühren zu erzielen, dürfen bei der Vergabe dagegen keine Rolle spielen. Gleichwohl rechnet sich der Energietisch gute Chancen aus. Vergabe sei immer auch ein politischer Akt, was letztlich zähle, sei der politische Diskurs über Daseinsvorsorge, Gemeinwohlorientierung, kommunales Eigentum, Preissicherheit und Reinvestition. „Wenn sich die Bevölkerungsmehrheit für einen kommunalen Versorger ausspricht“, so der Sprecher des Energietisches Stefan Taschner, „wirkt sich das bei der Vergabe sicherlich aus.“

Geringes wirtschaftliches Risiko

Bei den Übernahmekosten gehen die Schätzungen auseinander. Während Vattenfall drei Milliarden Euro Sachwertkosten reklamiert, kommt ein Gutachten der Industrie- und Handelskammer auf etwa eine Milliarde Euro. Unter Berufung auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs geht der Energietisch von rund 400 Millionen Euro aus. Hierbei wird der Ertragswert des Netzes als Maßstab genommen, das heißt, die Höhe des einspielbaren Gewinns. „Der Ertragswert garantiert unabhängig von der Höhe, dass sich der Kauf refinanziert“, erläutert Stefan Taschner. Denn die Entgelte des Netzbetreibers, von der Bundesnetzagentur detailliert festgelegt, fließen direkt in die kommunalen Kassen. Laut IHK-Gutachten würde der Berliner Haushalt gar nicht zusätzlich belastet werden, da die Rendite höher liegt als die Tilgungs- und Zinslast.
Das wirtschaftliche Risiko einer Rekommunalisierung ist also eher gering. Es zeigt sich am Berliner Beispiel, dass Rekommunalisierung vor allem ein langwieriger Prozess der Meinungsbildung ist. Weitaus mehr als ökonomische Wirkmächte spielen politische Faktoren eine Rolle. Noch im April vergangenen Jahres hatte sich die Berliner CDU vehement gegen eine „Verstaatlichung“ der Energie ausgesprochen, sich für den privatwirtschaftlichen Betrieb stark gemacht und dabei ganz offen den jetzigen Betreiber Vattenfall favorisiert. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl wird nun auch in Unionskreisen der Sachverhalt vorsichtiger diskutiert. Bei der SPD wurde vor einem Jahr noch zaghaft über Beteiligungsmodelle gesprochen und die Genossenschaftsinitiative BürgerEnergie Berlin, die „Volksaktien“ auf den Markt bringt, unterstützt. Die Parteien Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke haben weitgehend ähnliche Vorstellungen gezeigt.
Ob der Energietisch das Meinungsklima in der Hauptstadt richtig einschätzt und eine echte Rekommunalisierung einleiten kann, wird sich bis zum 10. Juni zeigen. Wenn bis dahin die erforderlichen Unterschriften zusammenkommen und ein Volksentscheid parallel zur Bundestagswahl stattfindet, stehen die Zeichen dafür gut. Wind ist eben manchmal gar kein Natur­ereignis, sondern Meinungsbildung und Volkes Wille.

Helmut Merschmann

http://www.berliner-energietisch.net
Dieser Beitrag ist in der April-Ausgabe von stadt+werk erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren. (Deep Link)

Stichwörter: Rekommunalisierung, Vattenfall, Berlin, Bürgerbeteiligung

Bildquelle: Marco2811/Fotolia.com

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