Freitag, 26. April 2024

Kreis Nordfriesland:
Wenn aus Krach Musik wird


[19.7.2012] In Nordfriesland stehen viele Leuchttürme, einer davon ist der Kreis selbst: beim Klimaschutz. Die Kommune hat den mit 100.000 Euro dotierten ersten Preis beim Wettbewerb Energie-Olympiade gewonnen und will nun der klimafreundlichste Kreis in ganz Deutschland werden.

Kreis Nordfriesland: 90 Prozent der Windparks sind genossenschaftlich organisiert. Klimaschutz fängt beim eigenen Verhalten an. In dieser Hinsicht hat sich Uwe Schwalm wenig vorzuwerfen. Der 54-jährige Biologielehrer aus Tating bei St. Peter-Ording fährt mit dem Zug zum Kreistag nach Husum, wo er am Bahnhof auf ein „grünes Fahrrad“ der örtlichen Arbeitsloseninitiative umsteigt und die restlichen Kilometer in die Pedale tritt. Die Jahres­gebühr von 80 Euro übernimmt der Kreis, denn Uwe Schwalm sitzt als stellvertretender Landrat im Husumer Kreistag. Zu Hause hat er einen 5.000-Liter-Tank unter dem Rasen, in dem Regenwasser für die Toilettenspülung aufgefangen wird. Ökostrom ist für den Grünen selbstverständlich.
Seit 1995 sitzt Uwe Schwalm im Kreistag, hat das Auf und Ab der Umweltpolitik hautnah miterlebt. Heute beansprucht er eine Art Urheberschaft auf die ambitionierten klimapolitischen Ziele Nordfrieslands. „Wir Grünen haben zehn Jahre lang Klimaschutzanträge gestellt, die in der Regel alle abgelehnt worden sind“, erinnert sich Schwalm. „Irgendwann aber war die Zeit reif. Als wir 2007 einen Antrag einreichten, um eine Klima-AG zu gründen, gab es plötzlich fraktionsübergreifend eine Mehrheit.“ Alle drei Wochen trafen sich Interessierte aus allen Fraktionen und redeten über Klimapolitik. „Im Zug auf dem Nachhauseweg ist mir unser Slogan eingefallen. Bis 2020 wollen wir klimafreundlichster Kreis Deutschlands werden.“
Klimaschutz hat im Norden seit jeher einen hohen Stellenwert. Wo das Land genau auf dem Meeresspiegel liegt und von mächtigen Deichen vor den Fluten geschützt werden muss, hat man aus verständlichen Gründen ein großes Interesse am Umweltschutz. „Nordfriesland profitiert ja doppelt vom Klimaschutz, weil wir gleichzeitig unseren Küstenschutz aufrechterhalten müssen“, sagt Landrat Dieter Harrsen von der Wählergemeinschaft Nordfriesland. Der gebürtige Insulaner ist auf Pellworm aufgewachsen, einer Insel vor Husum. „Dort war Klima schon immer ein Thema, und ich bin sehr froh, dass der Klimaschutz jetzt so breit in der Gesellschaft angekommen ist.“

Ambitionierte Projekte

Ganz uneigennützig geschieht das nicht. Friesen waren schon immer gute Kaufleute. Und so sind 90 Prozent der Windparks im Kreis Nordfriesland genossenschaftlich organisiert und in der Hand beteiligter Bürger. In den Dörfern betreiben durchschnittlich 30 bis 40 Leute zusammen einen Windpark und verdienen an der EEG-Umlage. Für Kommunen ist die Gewerbesteuer aus regenerativer Energieerzeugung inzwischen ein fester Posten und Landrat Harrsen freut sich über die gestiegene Bruttowertschöpfung im Landkreis: „Die Wirtschaftswachstumsrate in Nordfriesland ist von 92,1 Prozent im Jahr 2000 auf 98,2 Prozent im Jahr 2010 gestiegen.“ Inzwischen liegt die Stromproduktion auf Platz zwei der Wertschöpfung, gleich nach dem Tourismus.
Anfangs regten sich noch Proteste gegen die vielen Windräder an der Küste. Den einen waren sie ein Dorn im Auge, den anderen zu laut. Kreis Nordfriesland: Ambitionierte klimapolitische Ziele. Doch: „Wenn man selbst daran beteiligt ist, wird aus Krach Musik“, weiß Uwe Schwalm zu berichten. Der grüne Kreistagspolitiker hat manchmal Mühe, ein Gleichgewicht zu finden zwischen den wirtschaftlichen Interessen der Windradbetreiber und denen der Tourismus-Manager. Besucher schätzen vor allem die Ruhe und unberührte Natur an der norddeutschen Küste. Wenigstens die Inseln und Halligen bleiben deshalb vom Surren der riesigen Windflügel verschont.
Mit seiner 2,5-fach über dem eigenen Verbrauch liegenden Energieproduktion aus Wind-, Solar- und Bioenergie ist der Kreis Nordfriesland sehr gut aufgestellt. Mit diesem Ergebnis belegt er Platz zwei unter allen deutschen Kreisen. Der Anteil der Windkraft betrug bereits 2008 rund 1.700 Gigawattstunden und soll sich bis 2020 verdoppeln. Bei der Energieerzeugung aus Kraft-Wärme-Kopplung kommt man auf 79 Gigawattstunden Strom und 91 Gigawattstunden Wärme aus Biogasanlagen. Derzeit sind 22 Wärmenetze in Betrieb, welche die Abwärme von Blockheizkraftwerken nutzen und Gebäude über ein Leitungssystem versorgen. Betrieben werden die BHKWs mit Biogas aus eigener Produktion.
Da war es naheliegend, sich gemeinsam mit der Aktivregion Nordfriesland Nord an der von der Innovationsstiftung Schleswig-Holstein ausgelobten Energie-Olympiade 2011/12 zu beteiligen. Dem Wettbewerb vorausgegangen war ein Klimaschutzkonzept, das vom renommierten Wuppertal Institut erstellt worden ist. Darin wird eine CO2-Bilanz für den Kreis, private Haushalte, für Wirtschaft und öffentliche Verwaltungen angestellt sowie Einsparpotenziale aufgezeigt. Die oben genannten Werte stammen aus dem Papier, das gleichzeitig konkrete Maßnahmen benennt, damit Nordfriesland sein Klassenziel – bis 2020 zum klimafreundlichsten Kreis Deutschlands zu werden – erreichen kann.

Engagement und Aufklärung

Die Zahlen aus dem Klimaschutzkonzept sind bereits 2008 erhoben worden. Damals lag Nordfriesland bei den CO2-Emissionen mit 9,53 Tonnen Kohlendioxid pro Einwohner zwar nur geringfügig unterhalb des Bundesdurchschnitts (9,98 Tonnen). Berücksichtigt man allerdings die „Gutschriften“ durch die hohe Einspeisung regenerativen Stroms, steht der Kreis viel besser da: Dann sind es nur noch 3,34 Tonnen CO2-Emission pro Kopf.
Damit der Klimaschutz nicht zu einem bloßen Rechenspiel gerät, ist im April dieses Jahres ein Klimaschutz-Manager eingestellt worden. Gunnar Thöle sitzt im Husumer Kreishaus auf einer vom Bundesumweltministerium finanzierten Planstelle und hat die Aufgabe, das Klimaschutzkonzept und seine Maßnahmen zu kontrollieren. Außerdem soll der 33-Jährige Aktionen entwickeln, wie Bürger zu Akteuren des Klimaschutzes werden können. Sparen und Effizienz lauten auch hier die Schlüsselworte.
„Das Engagement der Bürger ist hier so hoch wie eigentlich nirgendwo sonst“, sagt Gunnar Thöle. Doch auch in Nordfriesland ist noch Aufklärungsarbeit zu leisten, vor allem für das Energiesparen. Und so steht das Preisgeld von 100.000 Euro aus der Energie-Olympiade, bei welcher der Kreis Nordfriesland mit der AktivRegion Nordfriesland Nord zur Energie-Modellregion Schleswig-Holstein gekürt wurde, im Wesentlichen für Öffentlichkeitsarbeit zur Verfügung. An einem bereits im Frühjahr veranstalteten Klimakongress haben viele Schulen teilgenommen. Eine elektronische Anzeigetafel in der Fußgängerzone von Bredstedt weist die aktuelle Produktion von Strom aus regenerativen Quellen in Nordfriesland aus.
Insgesamt 19 Maßnahmen will der Kreis in den nächsten drei Jahren umsetzen, um Energie zu sparen und die CO2-Emissionen einzuschränken. Dazu gehört etwa das Projekt energieeffizientes Wohnen, das Bürger, die ihr Haus energetisch sanieren wollen, dabei unterstützt, Fördermittel der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) abzurufen. Die Beschaffung für das Kreishaus folgt Energiesparleitlinien; viele öffentliche Gebäude werden mit neuesten LED-Lampen ausgestattet, deren Stromverbrauch besonders niedrig ist. Zudem finden Kampagnen zum energiebewussten Nutzerverhalten für Verwaltungsmitarbeiter, aber auch an Schulen statt. Eine Plattform Elektromobilität hat sich zum Ziel gesetzt, die Anzahl von Elektroautos und Ladestationen im Kreis zu erhöhen.

Liquid Nordfriesland

Damit nicht genug: Die Bürger sollen viel stärker in die politische Gestaltung eingebunden werden. Nordfriesland will die Bürgerbeteiligung erhöhen. Interessiert blickt man zum Nachbarkreis Friesland, wo demnächst eine Beteiligungssoftware der Piratenpartei eingesetzt werden soll, um die Bürgerinnen und Bürger zum politischen Mitmachen zu bewegen. „Wir wollen das auch“, sagt Klimaschutz-Manager Gunnar Thöle, der selbst der Piratenpartei angehört und in der Mitmach-Software vor allem einen Informationsvorteil erkennt. LiquidFeedback ermöglicht es, Anträge zu stellen, online zu diskutieren und das Bürgervotum in den Kreistag zu spiegeln. Insbesondere im ländlichen Raum, wo die Menschen mitunter lange Wege zurücklegen müssen, um sich politisch zu engagieren, könnte die Partizipation von zu Hause aus ein Erfolgsmodell werden.
Derzeit laufen Gespräche mit Experten und Software-Entwicklern, denn LiquidFeedback soll enger an die kommunalen Bedürfnisse angepasst werden. „Möglicherweise“, stellt Gunnar Thöle in Aussicht, „lassen wir auch eine eigene Lösung entwickeln“. Man will dabei mit Friesland kooperieren – die beiden Landräte sind befreundet. Unklar ist derzeit aber noch, wie die Beteiligung organisiert werden soll. Anders als bei den Piraten erscheint ein Registrierverfahren notwendig. In Friesland löst man dies auf dem Postweg: Jeder, der mitmachen will, registriert sich online mit seiner Adresse und erhält per Post einen Freischalt-Code. Ob jedoch bürgerliche Klarnamen in den Beiträgen verwendet werden sollen, darüber ist man sich noch nicht einig.
„Es darf auf keinen Fall darauf hi­nauslaufen, dass Einzelpersonen ein Abstimmungsergebnis manipulieren können“, sagt Uwe Schwalm, der ebenfalls großes Interesse an der Beteiligungslösung zeigt. Ihm ist allerdings klar, dass die Bürger zunächst mit konventionellem Marketing auf die Möglichkeit der technischen Partizipation aufmerksam gemacht werden müssen, mit Flyern, Infoständen und Anzeigenkampagnen. „Wir sind uns einig darin, dass wir hier nicht nur klimafreundlichster, sondern auch bürger- und beteiligungsfreundlichster Kreis werden wollen“, sagt Schwalm.

(bs)
Helmut Merschmann


Dieser Beitrag ist in der Ausgabe Juli 2012 von stadt+werk erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren. (Deep Link)

Stichwörter: Klimaschutz, Kreis Nordfriesland, Energie-Olympiade, Bürgerbeteiligung, Dieter Harrsen

Bildquelle v.o.n.u.: Jürgen Weingarten / pixelio, Hartmut Pohl, Husum

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